Mit Neutronen zu Festkörper-Batterien
Essenziell für einen Elektrolyten ist, dass sich die Ionen überhaupt erst zwischen der Anode und der Kathode bewegen können. Bei einem flüssigen Elektrolyten ist das unkritisch, denn die Ionen liegen in einer Lösung vor und können hinfließen, wo sie gebraucht werden. Aufgrund der leicht entflammbaren und schwer zu löschenden Komponenten (insbesondere Lithium) sind allerdings Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Das ist vor allem bei größeren Energiespeichern mit sehr hohen Kosten verbunden. Festkörperelektrolyte könnten eine Lösung für dieses Problem sein. Die Eigenschaft, die bei Festkörperelektrolyten genutzt wird, ist die superionische Leitfähigkeit. Eine Klasse an Materialien mit dieser Eigenschaft bilden argyroditartige Kristallverbindungen, also Verbindungen mit einer ähnlichen Struktur wie das Mineral Argyrodit. Die Gruppe um Professor Jie Ma von der Shanghai Jiao Tong Universität in Shanghai hat sich das Ag8SnSe6, einen Vertreter dieser Materialklasse, genauer angeschaut, um die eigentliche treibende Kraft hinter der superionischen Leitfähigkeit genauer zu verstehen.
Komplexe Dynamiken erschweren die Erforschung
Superionische Verbindungen, wie das Ag8SnSe6, haben sehr komplexe Strukturen und damit verbunden sind Eigenschaften, die sich abhängig von der Temperatur ändern. Die superionische Leitfähigkeit von Ag8SnSe6 zum Beispiel tritt erst ab einer Temperatur von über 355 K auf (ca. 82 °C). Darüber hinaus weist das Material eine sehr niedrige thermische Leitfähigkeit auf, die wiederum interessant für thermoelektrische Anwendungen sein könnte. Lange Zeit hat man vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Eigenschaften besteht. All diese zusammenhängenden Effekte sind experimentell nur schwer voneinander zu entwirren und macht es Forschenden schwer, die zugrundeliegenden strukturellen Mechanismen zu ergründen.
Mit Neutronen den Gitterschwingungen auf der Spur
Die Gruppe um Professor Jie Ma hat das Ag8SnSe6 mit Röntgenstrahlen und Neutronen untersucht. Mithilfe der Röntgenstrahlung konnten sie einen Übergang zur superionischen Leitfähigkeit bei ca. 82 °C anhand von Strukturänderungen feststellen. Die dynamischen Prozesse im Kristall betreffen die Schwingungen der Atome im Kristallgitter um ihre Ruheposition herum. Diese hat die Gruppe um Jie Ma mithilfe der inelastischen Neutronenstreuung am TOFTOF am MLZ und am AMATERAS Spektrometer an der japanischen Spallationsneutronenquelle J-PARC genauer untersucht.
Die Messungen zeigen unharmonische Gitterschwingungen zwischen den Silberatomen und der übrigen Kristallstruktur, die bei Temperaturen über 82 °C dazu führen, dass die Silberatome von Gitterplatz zu Gitterplatz hüpfen können und dadurch durch den Kristall fließen können. “Die Ergebnisse bestätigen, dass die niedrige thermische Leitfähigkeit und die superionische Leitung auf diese unharmonischen Gitterschwingungen zurückgeführt werden können. Beide Phänomene treten jedoch bei unterschiedlichen Temperaturen auf und sind nicht, wie zuvor angenommen, voneinander abhängig“, erklärt Jie Ma. “Die Arbeit zeigt schön, wie sich Messungen mit Neutronen und Röntgenstrahlen gegenseitig ergänzen und setzt wichtige Impulse zur Optimierung dieser Materialien”, sagt Marcell Wolf, der als Instrumentwissenschaftler am TOFTOF an Teilen der Messungen beteiligt war.
Originalveröffentlichung:
Ren, Q., Gupta, M.K., Jin, M. et al.
Extreme phonon anharmonicity underpins superionic diffusion and ultralow thermal conductivity in argyrodite Ag8SnSe6
Nat. Mater. 22, 999–1006 (2023)
DOI: 10.1038/s41563-023-01560-x